Die Geometrie der Zungenspitzen

letzte Änderung am 19. März 2025

Wer schon einmal eine preußische Weiche nach Originalplänen konstruiert hat wird möglicherweise die Korrektheit der Maße angezweifelt haben: Der Bogen des Zweiggleises will sich nicht schön tangential an die gerade Backenschiene legen und der Beginn des Bogens liegt ein gutes Stück vor dem Weichenanfang (WA), wo man ihn eigentlich hätte vermuten können.

Keine Sorge, den Preußen ist hier nicht das Geodreieck verrutscht. Es ist nur eine Methode, die Zungenspitzen ausreichend stabil zu konstruieren.

Theoretisch teilen sich am Weichenanfang die Fahrkanten von Stamm- und Zweiggleis, praktisch ist es aber nicht möglich die Zungenspitze bis zum theoretischen Bogenanfang dünn wie eine Messerschneide auszubilden. Das Ziel der Ingenieure ist eine stabile und möglichst langlebige Konstruktion, die gleichzeitig einen ruhigen Lauf der Fahrzeuge durch den Abzweig gewährleistet.

Ich stelle hier drei Methoden mit nicht maßstäblichen Skizzen dar. Die angegebenen Radien beziehen sich auf die Fahrkanten der jeweiligen Bogenaußenschienen. Die sonstigen Maße sind in Millimeter ausgewiesen.

Die Länderbahnkonstruktion beruht auf der Idee, die Zungenspitze mit einem steileren Winkel zu fertigen ohne dabei den Bogen zu unterbrechen. Die Abbildung zeigt, dass die Fahrkante des Bogens die Fahrkante des Stammgleises überschneidet und dass der Bogenbeginn deutlich vor dem Weichenanfang liegt. Die Zungenspitze liegt bei der pr. EW 190 1038 mm hinter dem Weichenanfang.

Das Ergebnis ist ein relativ harter Richtungswechsel. Ein weiterer Nachteil dieser Konstruktion ist, dass auch bei der Verbindung von Weichen mit gleicher Bogenrichtung Zwischengeraden nötig werden, da die Weichen erst am geometrischen Bogenende aneinanderstoßen dürfen.

Bei der Konstruktion der Reichsbahnweichen wählt man einen anderen Weg. Der theoretische Bogenbeginn liegt am Weichenanfang und der steilere, stabilere Winkel wird hier durch Auflösung des Bogenanfangs in zwei Tangenten erreicht. Aus der Skizze geht es nicht so deutlich hervor: Der Winkel zwischen Tangente und Backenschiene wird etwas kleiner, die Spitze ist aber noch widerstandsfähig genug. Die Ablenkung der Fahrzeuge fällt gegenüber dem Überschneidungsmodell etwas weniger heftig aus.

Die Ablenkung eines Fahrzeugs in das Zweiggleis bringt zwangsläufig einen Ruck mit sich. Da auch für das Tangentialmodell in dieser Hinsicht noch Verbesserungsbedarf besteht, wird das Prinzip der gebrochenen Spitzen entwickelt. Der Bogen wird hier soweit durchgeführt bis die (theoretische) Zungenfahrbahn noch ca. 5 mm stark ist. An diesem Punkt wird die Fahrkante auf 125 mm zur Backenschiene hin abgeschrägt. Die Spurweite im Bereich der Zungenspitze beträgt 1445 mm. Ein in Mittelstellung rollender Radsatz wird ohne Zwang von der anliegenden Zunge geführt.

Die Zeichnungen zu Zungenvorrichtungen mit gebrochenen Spitzen erhalten den Index g. Ab Ende der 50er Jahre werden bei der DB nur noch solche Zungen eingebaut. Da kann auch auf das kleine g verzichtet werden.

Weiterentwicklung

Ab 1963 wird die S 54-Schiene die Regelbauart der DB, 1970 ergänzt durch das UIC 60-Profil für stark belastete Strecken. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt werden die Reichsbahnweichen bei der DB als S 49-Weichen geführt, die Neuentwicklungen heißen dementsprechend S 54- bzw. UIC 60-Weichen.

Die Weichen mit den schwereren Schienenprofilen entsprechen in den geometrischen Grundmaßen den jeweiligen S 49-Weichen ansonsten gibt es jedoch ab 1970 deutliche Weiterentwicklungen:

  • Wegfall der Kuppelschwellen

  • Mittlerer Schwellenabstand 600 mm

  • Holzschwellen (1970 hatte man noch Bedenken wegen des hohen (Transport-)Gewichts von Weichen mit Betonschwellen)

  • Länge der Schwellen am WA und WE 2600 mm statt 2500 mm

  • Geschweißte Herzstücke mit geschraubten Flügelschienen

  • Wesentlich längere Radlenker aufgrund sehr flacher Einlaufneigung (etwa 7:1000 ≈ 1:143 gegenüber 1:57 bis 1:112,5 bei Reichsbahnweichen). Die Radlenker werden zunächst an Federbügeln befestigt, um die Anlaufmomente gering zu halten. Man geht im weiteren zu Stützböcken über, wie sie bis heute in verschiedenen Ausführungen eingebaut werden.

  • Neue Schienenbefestigung: Spannklemmen und in die Gleitstühle eingebaute Spannbügel (Innere Backenschienenverspannung IbaV) halten den Schienenfuß und sind gleichzeitig im erforderlichen Maß elastisch und wesentlich wartungsärmer. Dadurch konnte auf die Schienenstützen bzw. die Folgekonstruktion Keilverspannung verzichtet werden. Diese Konstruktion hat sich mittlerweile fast fünf Jahrzehnte bewährt und ist weltweit in Verwendung.

  • Neu eingeführt werden Übergangsplatten mit Neigung 1:80.

Die Spurerweiterung bei 190er Weichen entfällt entsprechend einer Empfehlung des internationalen Ausschusses. Das absehbare Ausscheiden fünffach gekuppelter Dampflokomotiven und die weitere Verbreitung von Drehgestellfahrzeugen werden hinter dieser Entscheidung stehen.

Weichen mit 190 m Abzweig gibt es nicht mit UIC 60-Schienen.

Das eigentliche Thema dieses Abschnitts sind ja die Zungen bzw. ihre Spitzen. Auch hier gibt es Veränderungen.

Die UIC 60-Weichen erhalten zunächst auch Federschienenzungen wie die moderneren S 49-Reichsbahnweichen. Für die S 54-Weichen werden neue Federzungen entwickelt, die dann auch für die größeren Profile übernommen werden. Die Federzungen der Länderbahnen und älteren Reichsbahnweichen werden im Federbereich durch Zungenplatten unterstützt, die das Verbiegen zu Bogenweichen erschweren. Die DRG zieht bei der Konstruktion der „Schnellfahrweiche“ EW 1200 1:18,5 die kürzeren und daher stabileren Gelenkzungen vor. Die Bundesbahningenieure haben da wesentlich weniger Bedenken: auf die Zungenplatte wird verzichtet und die Zungen werden teilweise noch länger als bei der Reichsbahn.

Die Zungen werden auch in Richtung Weichenanfang verlängert. Um die Führung des Radsatzes im Bereich der Zungenspitzen gerade mit Blick auf höhere Geschwindigkeiten zu optimieren, soll die Spurerweiterung auf 1445 mm wie bei den gebrochenen Spitzen der S 49-Weichen vermieden werden. Eine Verlängerung der Bauart „gebrochene Spitzen“ ist aus konstruktiven Gründen nicht mehr möglich. Deshalb greift man auf das alte Tangentenmodell (s.o.) zurück, mit einem flachen Anfallwinkel. Durch eine starke Unterschneidung der Backenschienen können die Zungenspitzen noch ausreichend stabil ausgeführt werden. Durch diese Änderung können die Zungenspitzen auch bei größeren Abzweigradien auf bis fast 1 Meter an den geometrischen Bogenbeginn herangeführt werden. Bei der S 49-EW 500 nach Blatt 259 g/m beträgt der Abstand noch 2142 mm.

Anmerkung: Das Gleissystem UIC 60 ist auf eine Spurweite von 1432 mm (in den Weichen 1433 mm) ausgelegt.

Die Großansicht der Zungenvorrichtung zeigt eine (inzwischen abgeräumte) EW 500 1:14 im Bahnhof Rosdorf, der geringe Abstand zwischen Schweißstoß und Zungenspitze ist hier gut zu erkennen

Für Modellbauer*innen können die Kabel für die Weichenheizung interessant sein. Außerdem finden sich noch kräftige Manschetten an einigen Schwellenköpfen. Dabei handelt es sich nicht um die Sicherung gerissener Schwellen, sondern um sogenannte Sicherungskappen. An den Manschetten sind schaufelartige Bleche angeschweißt, die ins Schotterbett greifen und damit die Quersteifigkeit der Weiche (oder auch Gleis) verbessern. Hier ist eine Belegung jeder dritten Schwelle angestrebt, was den Querverschiebewiderstand zusammen mit einer Verstärkung des Schotterbettes vor Kopf auf 500 mm um den Faktor 1,2 erhöht (jede 2. Schwelle 1,4-fach; jede Schwelle 1,9-fach).

Das Foto habe ich während des Streckenumbaus auf Betonschwellen gemacht. Deshalb wird die Zunge durch ein Handschloss auf die Position Gleiswechsel festgestellt.

Bei dieser EW 760 sind die weit nach vorn gezogenen Zungenspitzen auch deutlich zu sehen. Die Rbw-Ausführung von 1958 hat noch ein Zungenspitzenmaß noch 2633 mm.

Eigentlich schade, dass die interessanten Entwicklungsschritte im Anschluss an die Modellbahnepoche IIIb selbst bei Liebhabern der moderneren Bahn kaum Beachtung finden.